Übersetzt in Deutsch von Minh Tuyền – Korrektur von Katrin
Nach Abschluss des Retreats in der Schweiz und ein paar Ruhetagen flogen Frau Nhu Minh und ich nach Deutschland. Stuttgart ist eine Stadt im Süden Deutschlands, man muss immer einen Transitflug mit Umstieg nehmen, um dorthin zu gelangen. Diesmal musste der Flug Genf-Stuttgart über München fliegen, bevor er Stuttgart erreicht. Weil wir dachten, dass wir im Transit schnell zum nächsten Flug müssten, hatten wir unsere Handgepäckstücke aufgegeben. Als wir am Flughafen Stuttgart ankamen, fanden wir unsere beiden aufgegebenen Handgepäckstücke nicht vor. Unerwarteterweise waren die beiden Handgepäckstücke langsamer unterwegs als wir und irgendwo verloren gegangen. Da ich wusste, dass wir die Fluggesellschaft lediglich online über den Verlust unseres Gepäcks informieren mussten, fuhr ich beruhigt weiter. An jedem der folgenden Tage fuhren die beiden Schüler, Quang Khong und Herr Tuong Bach, abwechselnd zum Stuttgarter Flughafen, in der Hoffnung, das verlorene Gepäck sofort mit zurückbringen zu können. Abend für Abend kamen sie mit leeren Händen zurück. Vom Zen-Kloster Schenkenzell bis zum Flughafen sind es ca. 98 km bzw. ca. 1,5 Stunden Fahrt, sofern kein Stau herrscht. Dies ging so bis zu dem Tag, an dem wir die Feier zum 20. Jahrestag der Gründung der Stuttgarter Sangha leiteten, allerdings ohne unser zeremonielles gelbes Gewand. Und ebenso kehrten Frau Nhu Minh und ich am Ende nach drei Tagen Retreat nach Kalifornien zurück - sehr leicht, weil wir kein Gepäck mehr hatten. Bis jetzt, 12 Tage später, hat der Flughafen noch immer keine Informationen übermittelt.
Am 20. Jahrestag der Gründung der Stuttgarter Sangha (am 19. August 2023) mag das wichtigste Ereignis wohl die Vorführung des Videos gewesen sein, das die Aktivitäten vergangener Meditationsretreats zeigte. Dies in der Zeit von den von unserem Meister geleiteten ersten Retreats bis zu den jüngsten folgender Jahre, als er sein Gehirn im Rahmen des Forschungsprogramms der beiden Wissenschaftler Michael Erb und Ranganatha Sitaram mit einem f-MRT-Gerät an der Medizinischen Universität Tübingen in Süddeutschland scannen ließ. Dabei wurde die Funktionsweise des Gehirns während der Nicht-Meditation (in Anwesenheit von Gedanken, mit Denken) und Meditation (in Abwesenheit von Gedanken) untersucht. Anhand dieser Ergebnisse konnten die beiden Wissenschaftler vier stille Bereiche während der Meditation im hinteren Teil der linken Gehirnhälfte lokalisieren: Sehen, Hören, Tasten und Kognition. Beim Denken hingegen ist der präfrontale Bereich der Großhirnrinde aktiv und erscheint leuchtend rot auf dem Bildschirm. Das Video zeichnete die jährlichen Aktivitäten der Sangha auf: alte Bilder erschienen, ehemalige Mitglieder wurden wieder lebendig. In den letzten zwanzig Jahren hat sich viel verändert, aber die Sangha besteht immer noch und engagiert sich weiterhin für ihre Aktivitäten, was wirklich lobenswert ist.
Da das Retreat zweisprachig Deutsch-Vietnamesisch stattfand, übernahmen Herr Tuong Bach, Frau Minh Tuyen und Minh Kien abwechselnd die Simultanübersetzung. Es waren etwa 25 Meditierende aus vielen Orten anwesend. Von Paris aus waren sie mit dem Zug angereist. Aus Berlin hatten sie eine Fahrgemeinschaft gebildet, um mit dem Auto anzureisen. Von Goslar aus waren sie etwa acht Stunden gefahren, um zum Kloster zu gelangen. Da das Kloster in einem bergigen Gebiet mit Hügeln, Kiefernwäldern, grünen Bäumen und ruhigen Plätzen weit weg von der Stadt liegt, wohnten alle Sangha-Meditierende sehr weit vom Kloster entfernt. Aus diesem Grund mussten alle Teilnehmer vor Ort übernachten, doch der Platz im Kloster reichte nicht aus und die Berliner Gruppe musste in ein nahegelegenes Hotel ausweichen.
Es war Mitte August und das Wetter hier tagsüber und mittags sehr heiß, nur am frühen Morgen und am Abend war es kühl. Deshalb gingen die Meditierenden frühmorgens und spätnachmittags nach draußen zur Gehmeditation und zur Qi-Gong-Praxis. Während der heißen sonnigen Tageszeit blieben sie zum Lernen und Praktizieren nur in der Haupthalle. Der Kurs dauerte nur 3 Tage, daher gab es nicht viel Übungszeit, sondern nur die Wiederholung der Kerninhalte.
Am letzten Tag konnte ich die Yathābhūta-Technik (wahrheitsgemäße Realität), ihre Bedeutung und schrittweise Praxis näher erläutern. Grundsätzlich gibt es drei Übungsschritte:
- Schritt 1: Objekte sehen, hören, berühren, wahrheitsgemäß wissen – mit anderen Worten: das Wissen vom derzeit Existierenden, von dem Hier und Jetzt. Der Geist ist rein, beginnt neutral zu sein und haftet relativ wenig am Objekt an. Dieses Wissen kann noch Worte, Vergleiche und Unterscheidungen beinhalten, da wir noch in unserer Gesellschaft leben. Aber währenddessen ist der Geist frei von Gier, Hass oder Unwissenheit, und dies kann als Beginn der Einsicht angesehen werden. Diese Einsicht ist noch nicht wortlos (nutzt noch Worte).
- Schritt 2: ist nun wortlos, es herscht ein wahrheitsgemäßes Wissen im Stillen über Objekte durch Sehen, Hören und Berührung. Wenn der Geist ganz stabil ist und wahrgenommene äußere Ereignisse nicht mehr interpretiert, gibt es sowohl Samadhi als auch Weisheit gleichzeitig. Samadhi weil hier „Wissen im Stillen“ herrscht. Weisheit, weil das Wissen neutral ist. Hier gibt es noch den Geist und die äußeren Ereignisse. Die äußeren Ereignisse stellen „das derzeit Existierende“ dar. Hier kann es sinnverwandt als „ den äußeren Ereignissen steht Nicht-Geist gegenüber“ betrachtet werden.
- Schritt 3: Loslassen der äußeren Ereignisse und Rückkehr zum Betrachten des Geistes. Dies ähnelt dem, was Buddha Herrn Bāhiya lehrte: „Im Gesehenen wird nur das Gesehene sein, im Gehörten wird nur das Gehörte sein, im Gespürten wird nur das Gespürte sein, im Erkannten wird nur das Erkannte sein“. Es findet hier ein Verweilen im Geist statt; dieser ist leer, ruhig und still, genau wie in dem Ausdruck, der den „Eintritt in den Strom der Befreiung durch Abkehr von irdischen Klängen“ des Bodhisattvas Avalokiteśvara beschreibt. Wie ist unser Geist in diesem Moment? Der Geist ist einfach „so“. Und was ist mit den äußeren Ereignissen? Diese sind auch „so“. So versuche ich es behelfsweise zu beschreiben, weil in diesem Moment keinerlei Konzept existiert und es daher keine äußeren Ereignisse oder Manifestation des Geistes mehr gibt.
Dann habe ich am letzten Tag des Kurses die Praxis der Achtsamkeit zusammengefasst und sie wie folgt in drei Schritte unterteilt:
- Schritt 1: Einsicht ist das Wissen durch Weisheit, das heißt ein reines, ruhiges und stilles, neutrales Wissen. Dieses Wissen kommt aus dem wahren Geist, kann jedoch manchmal von Gedanken, dualistischen Unterscheidungen und Worten begleitet sein. Wenn dieses Wissen frei von Gier, Hass oder Unwissenheit ist, dann gehört es zum wahren Geist. Dieser Schritt 1 könnte als Sammeln des Geistes in einem Objekt betrachtet werden. Das Objekt verändert sich im normalen Leben ständig, aber es gibt zu jedem Zeitpunkt nur ein Objekt. Das Objekt hat ausschließlich Bezug zu den vier Bereichen: Körper, Gefühle, Geist, Geistesobjekt. Dieser erste Schritt besteht in der Anwendung von Weisheit/Vipassanā. Es geht auch um das wahrheitsgemäße Wissen.
- Schritt 2: Kontemplation/Anupassanā. Im Alltag müssen wir die Außenwelt mehr betrachten und ein besseres Verständnis für die Außenwelt entwickeln: intern (Körper, Empfindungen, Geist, Dharmas) und extern (Körper, Empfindungen, Geist, Dharmas). Dies kann als räumliche Erweiterung dieses Verständnisses betrachtet werden. Dann müssen wir uns weiterentwickeln: Das Verständnis für die sich verändernde Natur (das Entstehen und das Vergehen) des Körpers, der Empfindung, des Geistes und der Dharmas weiter ausbauen. Dies kann als zeitliche Erweiterung dieses Verständnisses betrachtet werden. Dieser Schritt 2 ist wichtig: Verstehen Sie ihn als Aufhebung des Ergreifens, der Erlöschung des „Objekts“, das im Moment existiert und von den Sinnen im ersten Schritt erkannt wurde.
- Schritt 3: Verweilen im So-Sati (rechte Achtsamkeit von “so“). Kein Anhaften und Festhalten. Sich auf nichts im Leben stützen.
Zusammenfassend ist das Sutra über die Grundlagen der Achtsamkeit „der einzige Weg, der zur Läuterung der Wesen, zur Überwindung von Kummer und Wehklage, zur Aufhebung von Leiden und Trübsal führt, um auf dem Weg der Wahrheit zu wandeln und um Nibbāna zu erfahren“. Von Anfang bis Ende ist es nur das reine, ruhige und stille, neutrale Wissen unseres eigenen wahren Geistes. Mit diesem Wissen betrachten wir das kleine Universum in unserem Körper und Geist und dann mit eben diesem Wissen das weite Universum außerhalb. Beide sind gleich, beide sind das Dharma vom Entstehen und Vergehen. So hört alles Festhalten, jede Anhaftung auf und es kommt zur Befreiung.
4. September 2023
Triet Nhu